Mittwoch, 19. Juni 2013

Sound


4 sound



Das ist noch nicht lange so: Aber ich höre gerne Techno. Minimal. Das ist für mich wie Punk für Pietsche. Der versteht das nicht. Wie auch. Der kann Zuhause Randale machen, ohne mit unangenehmen Konsequenzen rechnen zu müssen. Ich bin anders aufgewachsen. Ohne Meinungsfreiheit und Diskussionsrunde zum Abendbrot. Das habe ich erst durch Jonathan, Pietsche und Helene kennen gelernt. Zuhause war das unvorstellbar. Meine Mutter hat mein Benehmen zu verantworten. Krieg ich ein paar ab und meine Mutter protestiert, steckt sie die nächsten ein. Es ist die Mutterliebe, sagt mein Vater, die den Mann in mir unterdrückt. Ein Mann kann hart arbeiten und eine Familie ernähren. Das ist Grundlegendes, und nicht in der Schule zu lernen. Einmal im Monat darf ich offiziell raus. Dann gehe ich tanzen. Zu Minimal. Ich habe jetzt ein bisschen Forschung betrieben und bin nun darauf gestoßen, dass meine Familie hier in diesem Kaff an der Rinne niemals ein großes Landgut besessen hat. Das ist ein Hirngespinst meines Vaters. Seine Mutter ist mit ihrem Mann aus Schlesien zugewandert. Sie besaßen erst einmal gar nichts. Vielleicht ist die Geschichte, die mein Vater mir immer auftischen will, die Geschichte seines genetischen Erbguts. Wer weiß, vielleicht gab es ja noch vor ein paar Generationen einen Besitz. In Schlesien vor 200 Jahren. Ist schon möglich, und vielleicht finde ich es irgendwann einmal heraus. Und vielleicht findet sich diese vererbte Erinnerung meines Vaters in meinem Faible für Techno wieder. Elektronische Musik ist Arbeit. Das kannst du nicht Zuhause hören. Dazu musst du tanzen. Und die Kälte der Arrangements minimaler Geräuschreduktionen kommt von der Kälte des Alltags, dem diese Musik entspringt. Und wenn alle zusammen die Kälte ihres persönlichen Alltags spüren und sich dazu bewegen, werden die Vorzeichen geändert und man empfindet eine kollektive Wärme. Und vielleicht ist es ja so wie mein Vater sagt. Wenn man gemeinsam die Dinge bearbeitet und sich ein bisschen opfert, dann sind sie nicht mehr so schwer und tun nicht mehr weh. Warum ich dann immer alleine in den Kartoffeln schuften muss, steht auf einem anderen Blatt. Es könnte diese glühende Kälte sein, die ich im Techno finde, die mein Vater mir zeigen möchte, wenn er mir Dinge antut, gefühllos und doch voller Schmerz. Vielleicht denkt er tatsächlich, dass man eine Erinnerung weiterprügeln kann. Eine Erinnerung, die sich schlecht anfühlt.

(aus Wild ist der Wind oder Quadrophonia II von Nikolaus Günter, 2010)
N.G.

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